Belle de jour und Catherine Deneuve – Die Rolle ihres Lebens

Beitrag von Dr. Ingeborg Kraus – Karlsruhe, den 14.01.2018

Der Film „Belle de jour“ ist ein Meisterwerk. Es ist kein sexistischer Film, kein Film einer Frau, die ihre sexuellen Phantasien ausleben will, oder eine Frau, die aus der prüden Gesellschaft ausbrechen will. Kein anderer Film wurde so wenig verstanden, wie Belle de jour. Catherine Deneuve selbst, die diese Rolle bis auf die Perfektion verkörperte, verstand sie nie. Es ist die Rolle ihres Lebens: eine Frau, die sexuellen Missbrauch nicht erkennt.

Warum lässt sich eine, aus gutem Hause kommende, bildschöne Frau von fremden Männern misshandeln, demütigen und sexuell missbrauchen? Es sind nur zwei kurze Filmszenen, die das Rätsel auflösen. In der 14. Minute des Films, sieht man für ein paar Sekunden ein Mädchen, die kleine Séverine, die von einem Erwachsenen geküsst wird, seine Hand greift unter ihr Kleid. Die zweite Szene: Kurz bevor Séverine zum ersten Mal an der Tür des Bordells klopft bekommt sie einen Flash-Back: Sie sieht die kleine Séverine, die in der Kirche die Hostie verweigert. Sie fühlt sich schuldig für das was ihr angetan wurde. Es ist nicht die Erwachsene, die ins Bordell geht, es ist das Mädchen, das sich schuldig fühlt. Es ist auffällig, wie sich die Erwachsene ständig entschuldigt. Sie leidet unter wiederkehrenden Albträumen, in denen sie gedemütigt, mit Dreck beschmissen, beschimpft, gepeitscht, vergewaltigt wird. Die Erwachsene ist im Leben oft abwesend, wie in Trance, unkonzentriert, sie lässt Dinge fallen. Zu ihrem Mann kann sie keine richtige Nähe entwickeln. Durch die Prostitution wird sie lebendiger, fröhlicher und kann mehr Nähe zu ihrem Mann zulassen. Ihre Tätigkeit als Prostituierte gerät jedoch außer Kontrolle. Ein eifersüchtiger Freier folgt ihr und schießt auf ihren Mann, der dadurch querschnittsgelähmt wird. Die letzte Szene ist schwer zu ertragen, da ihr Mann über einen Freier erfährt, dass sie als Prostituierte tätig war und, dass sie daran mitschuldig ist, dass er im Rollstuhl sitzt. Ihre Schuld wird ausgesprochen. Er verliert eine Träne und im nächsten Moment sagt sie, dass sie keine Träume mehr hat und in die Fantasie flüchtet.

Aus psychotraumatologischer Sicht, was passiert da? Séverine ist eine Frau, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde. Diese Erinnerung ist von ihr abgespalten. Es tauchen immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die sie nicht versteht. Sie ist sich ihres Traumas nicht bewusst. Bruchstücke davon sind in ihrem Trauma-Gedächtnis dissoziiert abgespeichert. Es ist ein anderes Teil ihres Gehirns, das willentlich nicht zugänglich für sie ist. So kann sie nicht erzählen was ihr passiert ist, es bleibt unbewusst. Ihr Trauma ist somit auch nicht in ihrem narrativen Gedächtnis integriert. Es wird aber immer wieder aktiviert und äußert sich in ihrem erwachsenen Leben in Form von Flash-Backs, Albträumen, Trance Zuständen, Dissoziation, Unsicherheiten, emotionaler Taubheit, Distanz-Nähe Problematik. Sie versteht diese Zustände nicht. Sie kann keine Sexualität mit ihrem Mann leben, da diese mit masochistischen Bildern verknüpft ist. Sie fühlt sich vom Bordell magisch angezogen und versteht nicht, warum sie sich prostituiert. Die Prostitution wird hier als Re-Inszenierung ihres abgespaltenen Traumas verstanden. Sie geht durchs Leben, gequält von masochistischen Bildern und einem tiefen Gefühl etwas Falsches gemacht zu haben und für irgendetwas schuldig zu sein. Sie kann es aber nicht deuten, sie versteht nicht warum. Folgende Formel gilt in der Traumatologie: „Ein Trauma, das nicht realisiert wird, wird wieder erlebt“. Es ist ein Versuch, dem inneren Schmerz eine äußere Gestalt zu geben um sich innerlich zu entlasten. Es gibt ein gutes Beispiel dafür: Anfang des letzten Jahrhunderts ließen sich massenhaft Japanische Frauen geknebelt fotografieren um ihre Unterdrückung zu visualisieren. Sie sagten, sie fühlten sich danach freier. Es ist aber keine richtige Befreiung, es ist eine Inszenierung des inneren Leidens, und wenn es selbstschädigend ist, ist es eine Fortsetzung des Traumas. In diesem Teufelskreis ist Séverine gefangen. Belle de Jour ist keine sexuelle Befreiung, sie ist kein Ausbruch aus einer puritanischen Gesellschaft, wie es sogar auch Nora Bossong in ihrem Buch „Rotlicht“ völlig fälschlich darstellte. Belle de Jour ist keine Frau, die Spaß am Masochismus hat. Nein, Belle de Jour ist das Symptom einer traumatisierten Frau, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde.

Und nun spricht die reife, die Grande Dame Catherine Deneuve, klagt die „metoo“ Kampagne an. Gerade diese Frau wendet sich an die Nation und warnt davor, den klaren Blick darüber nicht zu verlieren was eine Vergewaltigung sei und „nur“ eine lästige Anmache. Sie will die sexuelle Freiheit schützen und denunziert die Kampagne als totalitär und Rückfall in den Puritanismus.

Belle de Jour, 1967 gedreht, zeigt in subtilen Details alle Trauma Reaktionen einer Frau, die in ihrer Kindheit ein Opfer sexueller Gewalt war. In einer Zeit, wo die Psychotraumatologie noch in den Kinderschuhen steckte, war dieser Film ein Meilenstein dafür, aber von vielen immer missverstanden. Missverstanden, zuletzt auch von Catherine Deneuve selbst, die vielleicht heute noch denkt, dass Belle de Jour eine Befreiung für Séverine war. Nein, sie war keine Befreiung, sie war ihr Untergang. Catherine Deneuve bleibt in der Rolle der Belle de Jour, die nicht begreift, was sie tut.

Für Millionen Frauen, die sich mühsam dazu durchgerungen haben, über ihren Missbrauch zu sprechen und die es vielleicht nicht gewagt hätten ohne das Schutzschild der metoo Kampagne, ist das ein Schlag ins Gesicht und ein Verrat an der Sache der Frauen. Jeder hat die Freiheit, blind bleiben zu dürfen aber nicht das Recht, anderen den offenen Blick für die Wahrheit abzusprechen.

Dr. Ingeborg Kraus

Lektorat: Ulrike Maier

Ein Gedanke zu „Belle de jour und Catherine Deneuve – Die Rolle ihres Lebens

  1. Renate Rastätter

    Liebe Ingeborg, vielen Dank für die traumatherapeutische Analyse und Deutung des Film „Belle de Jour“ und für das Aufzeigen des Zusammenhangs mit Catherine Deneuve‘s Kritik an der metoo-Kampagne. Ich habe diesen Film auch vor Jahrzehnten gesehen. Der Blick zurück in die 60iger Jahre ist hilfreich, um sich das Ausmaß der sexistischen Gewalt in unserer Gesellschaft zu vergegenwärtigen. Es wird zwar ein Einzelschicksal gezeigt, aber es ist symptomatisch dafür, dass Frauen sich schuldig fühlen, wenn ihnen sexistische Gewalt angetan wird. Wer sich – meist unbewußt – schuldig fühlt, kann die Täter nicht nicht angreifen. Dass heute einzelne Männer öffentlich an den Pranger gestellt werden ist grausam. Sie erleben einen Absturz und eine soziale Ächtung in einem extremen Ausmaß. Sie haben aber ihre Machtstellung dazu ausgenutzt, Frauen zu mißbrauchen. Damit sich die Gesellschaft ändern kann, ist diese öffentliche Kritik und Aufarbeitung wohl unvermeidlich. Ich unterstütze Dich und euch alle weiterhin dabei, dass Prostitution verboten wird. Vielen Dank für Euer Engagement.

    Renate

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