Brief an eine Traumatherapeutin

Rede von Dr. Ingeborg Kraus in München auf der Veranstaltung „Prostitution – die unzensierte Wahrheit“, am 16.03.2018.

Lektorat: Ulrike Maier & Firdes Ceylan – Bild: Hailin Wang, „Tiefe Nacht“

Auf dem Weg nach München las ich in einem alternativen Stadtführer das Kapitel über das dritte Reich. Darin konnte ich erfahren, dass SS-Führer Heinrich Himmler ein großer Anhänger der Naturheilkunde war. Ein paar Meter neben seinem Kräutergarten in Dachau wurden Versuche mit homöopathischen Mitteln an Häftlingen unternommen, die an Tuberkulose erkrankt waren. Nur wenige Meter weiter wurden grausame medizinische Versuche mit Unterdruck- und Unterkühlung durchgeführt. Ein paar Meter vom Krematorium entfernt gab es ein KZ-Bordell und noch ein paar Meter weiter befand sich eine Kaninchenzucht um die sich die SS-Wächter liebevoll kümmerten. Nach dem Krieg wurden rund 80% der früheren Beamten wieder eingestellt.

Bei der Lektüre dieses Kapitels wurde mir plötzlich bewusst, dass wir eine Geschichte der Dissoziation des Bösen haben. Nicht nur auf individueller Ebene, also dass der gleiche Mensch, der sich liebevoll um Kaninchen kümmert in der Lage ist, anschließend Menschen zu vergasen, sondern auch auf kollektiver Ebene. Unser Volk hat das Böse abgespalten und nach dem Krieg so weiter gemacht, als wäre nichts passiert.

Diese Form der kollektiven Dissoziation erlebe ich auch im Bereich der Prostitution. Hier ist es jedoch enorm wichtig hinzuschauen, aufzuklären und kritisch zu sein um dazu beizutragen, Frauen aus ihrer prekären Situation herauszuholen. Alles andere legitimiert die psychische und physische Zerstörung vieler Frauen, die im „System Prostitution“ gefangen sind.

Im Januar gab es einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Falsche Fakten über Prostitution“. Hier wurde u.a. meine These kritisiert, dass Sexarbeit genauso traumatische Folgen haben kann, wie in den Krieg zu ziehen – womit gemeint ist, dass hier ähnliche PTBS Symptome zu beobachten sind.

Fast zeitgleich zu diesem Artikel erhielt ich den nachfolgenden Brief einer Betroffenen, mit der Bitte um Hilfe, der zeigt wie Frauen in die Prostitution hineingeraten können und welche langfristigen Folgen das hat. Dieses Fallbeispiel, das ich mit Genehmigung der Autorin darstelle, ist eine gute Einführung in die Psychotraumatologie. Beschrieben werden dissoziative Störungen, eine traumatische Amnesie, diverse somatische Reaktionen und es wird deutlich, wie eine posttraumatische Belastungsstörung, den Alltag und die Nacht zur Hölle machen kann.

„Sehr geehrte Frau Dr. Kraus,

soeben habe ich in einer Dokumentation auf ZDFinfo zum allerersten Mal von Ihrer Arbeit im Bereich Traumaarbeit in der Prostitution erfahren. Ich selbst bin Betroffene und möchte Ihnen meine Geschichte erzählen:

In meinem Elternhaus erlebte ich Gewalterfahrungen physischer sowie psychischer Natur und sexuelle Gewalt.

In meiner Jugend hatte ich Albträume und wusste nicht weshalb. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an meine Gewalterfahrungen. Als ich Anfang 20 war, trank ich mit einer Freundin in der Stadt einen Kaffee. Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich Bilder und ich wusste auf einmal, was in meiner Vergangenheit passiert war. Wie Dateien auf einem Computer, die gelöscht waren und auf einmal wieder da sind waren auch meine Erinnerungen wieder da. Das war schrecklich für mich und ich konnte überhaupt nicht damit umgehen. Ich wusste auch nicht, wie ich jetzt meinen Eltern gegenübertreten sollte. Mein ganzes Leben hatte ich schon Angst gehabt, jetzt wusste ich warum, war aber mit der Situation völlig überfordert.

Nach meinem Auszug aus dem Elternhaus geriet ich sehr schnell an entsprechende Menschen, auch aus dem Rotlichtmilieu, die ich jedoch gar nicht ernst nahm. Sie boten mir einen Job als „Begleitperson“ an, was sich für mich zunächst harmlos anhörte. Was als netter Abend begonnen hatte, endete damit, dass ich geschlagen wurde. Ich konnte damals nicht nein sagen und wusste auch nicht, dass ich hätte nein sagen können. So boten mir manchmal Männer ein Glas Champagner an und gingen dann mit mir in ein Stundenhotel… Was ich nicht wollte. Eine innere Stimme dachte aber, es muss so sein. Dies führte am Ende zur Prostitution, mit 21 Jahren.

Ich hätte damals alles gemacht, um nicht mehr zu meinen Eltern zurück zu müssen. Ich kam aus einer gut situierten Familie, niemand hatte jemals hingeschaut, weil man Gewalt von meinen Eltern nicht erwartet hatte. Beim Sozialamt wurde mir gesagt, dass meine Eltern für mich unterhaltspflichtig seien und ich sie auf Unterhalt verklagen könne. Weil das für mich nicht in Frage kam, führte es letztlich zum Einstieg in die Prostitution. Es war eine Kombination aus nicht nein sagen können und keine Hilfe bekommen.

Die Männer, die die Bordelle betrieben, trieben immer einen Keil zwischen die Frauen, so dass diese sich nicht solidarisieren konnten. Sie hetzten die Frauen sogar gegeneinander auf, erzählten Geschichten, verbreiteten Lügen etc. Den einzigen Halt fand man dann bei seinem Zuhälter, der einem einen Schutz vorgaukelte, den es nie gab, in keinster Weise.

Ich habe viele, mehr als genug Frauen gesehen, die von ihren Freiern und Zuhältern geschlagen wurden. Auch mir wurde sofort ein Zuhälter zugewiesen. Ich hatte ja sonst niemanden. Er war zuvorkommend. Er kaufte mir Kleidung etc. Deshalb hatte ich schnell Schulden bei ihm. Nach einem halben Jahr in der Prostitution brach ich komplett zusammen. Ich drehte völlig durch und demolierte das ganze Zimmer. Am Ende musste ich mich noch frei kaufen, also die Miete, die noch anstand, bezahlen.

In der Prostitution erlebte ich immer wieder psychische Gewalt. Man wurde erniedrigt, klein gemacht, und zwar sowohl von den Freiern als auch von den Zuhältern. Es gab Männer, die dachten, dass sie kostenlos Sex haben könnten. Sie dachten, wir seien nun ein Paar. Mir passierte es oft, dass ich Männern vertraute und am Ende gingen sie, ohne zu bezahlen. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, die Security zu rufen. Ich war aber psychisch zu schwach, um meine Rechte einzufordern. Am Ende lag ich nur noch im Bett und war zu gar nichts mehr fähig.

Beim Sex versuchte ich immer, aus meinem Körper auszusteigen. Ich spielte eine Rolle. Das war ich nicht. Dass ich das konnte, nicht mehr viel zu spüren, war eine Folge der Gewalterfahrungen aus meiner Kindheit.

Zum Teil übergab ich mich hinterher und / oder spürte den Schmerz und Ekel zeitversetzt. Noch heute bin ich halbwegs beziehungsunfähig. In Momenten, in denen es überhaupt keinen Anlass gibt, versteife ich plötzlich. Ich bin dann auf einmal eiskalt, was auch bei meinem Gegenüber Unbehagen auslöst.

Ekel und Schmerz kommen immer wieder hoch. Es gab ganz junge Männer in Gruppen. Sie sahen, wie schlecht es mir ging. Manche fragten mich, ob sie mir helfen könnten. Ich lehnte jedoch jede Hilfe ab. Ich war so gefangen darin.

Ich habe mich gehasst und hasse mich immer noch. Obwohl ich viel für mich tue, durchdringt mich dieser Selbsthass immer wieder. Das schlimmste ist nicht die eigene Ablehnung, sondern dass ich oft nicht in der Lage bin, meinem Sohn Liebe zu geben. Ich habe einen wunderbaren Sohn, kann aber die bedingungslose Liebe, die ich von ihm bekomme oft nicht annehmen, obwohl ich ihn über alles liebe. Das ist das Allerschlimmste. Diese Liebe löst etwas Negatives in mir aus, ich weiß aber nicht warum. Ich habe keine Erklärung dafür, warum ich gerade zu dem Menschen, der mich so liebt, abweisend bin. Ich versuche alles, aber ich schaffe es nicht.

Mittlerweile bin ich sehr verzweifelt. Ich habe bereits 4 stationäre Trauma-Therapien sowie diverse ambulante Therapien hinter mir. Doch der Albtraum scheint kein Ende zu nehmen. Ich bin jetzt eine alleinerziehende berufstätige Mutter eines fast 8-jährigen Sohnes und gerate fast täglich viel zu früh an meine Grenzen. Dabei möchte ich einfach nur ihm und mir gerecht werden. Können Sie mir vielleicht helfen?

Es gab sehr lange depressive Phasen in meinem Leben. Die erste richtig schlimme, in der ich es nicht einmal mehr schaffte aufzustehen, war, nachdem ich der Prostitution entkommen war.

Auch Ermüdungserscheinungen treten immer wieder plötzlich aus dem Nichts heraus auf. Bereits vor der Prostitution hatte ich abwechselnd an Magersucht und Bulimie gelitten. Die Diagnose PTBS wurde bereits vor vielen Jahren gestellt. Flashbacks gehören leider auch heute noch hin und wieder zu meinem Alltag und kleinste Anlässe lösen Panikattacken bei mir aus. Manchmal sind sie so schlimm, dass ich stationär behandelt werden muss.

Die dissoziativen Zustände habe ich seit längerer Zeit unter Kontrolle. Früher passierte es mir, dass ich auf einmal vollkommen abwesend war. Einmal hatte ich einen Termin, stand vor dem Spiegel und nach 3 oder 4 Stunden stand ich immer noch da. Den Termin hatte ich natürlich verpasst. Auch heute noch bin ich ab einem gewissen Schmerzpegel weg und bekomme nichts mehr mit. Auch bekomme ich hohes Fieber, wenn ich an mein Limit komme. Nach ein oder zwei Tagen ist das Fieber wieder weg. Medizinisch kann man es nicht erklären.

Sehr belastend sind die Albträume, die mich jede Nacht quälen. An dem, was ich im Wachzustand erlebe, kann ich arbeiten und Lösungen finden, aber die Nacht kann ich nicht kontrollieren. In meinen Träumen holen mich die Übergriffe aus meiner Kindheit ein und die Zeit in der Prostitution. Ich schreie und wache schweißgebadet auf. Niemals komme ich erholt aus der Nacht. Jeder Tag beginnt für mich mit einer großen Belastung. Die schlimmen Gefühle begleiten mich dann den ganzen Tag und führen dazu, dass ich sehr schreckhaft und gereizt bin. Meine Toleranzgrenze ist so niedrig, dass ich manchmal aus geringem Anlass zu schreien anfange.

Ängste und Panik begleiten mich eigentlich durch mein ganzes Leben: Die Angst verlassen zu werden löst Todesängste bei mir aus. Alles, was ich in den Therapien gelernt habe, alle Ressourcen sind dann für mich nicht mehr erreichbar.

Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder versucht, mein Selbstvertrauen aufzubauen. Ich bin mir aber nie genug. Egal wie, egal was für Rückmeldungen ich bekomme, ich bin nie zufrieden mit mir. Nie ist es gut genug, was ich tue.

Gewaltformen in der Prostitution würde ich lieber in einem persönlichen Gespräch mit Ihnen ausführen. Sowie auch einige weitere Dinge besprechen.

Bitte Frau Dr. Kraus, helfen Sie mir!