Rede von Tanja Rahm auf dem Kongress Stop Sexkauf, 4. bis 6. Dezember 2014 in München, im Workshop „Traumata und Prostitution: Erfahrungen und Forderungen“.
Vor 10 Jahren wurde ich aus Frustration Therapeutin. Diese Frustration rührte aus meiner eigenen Erfahrung mit einer Psychologin, zu der ich ging nach einem zweiten sexuellen Übergriff, als ich 12 Jahre alt war. Diese Psychologin hatte keine Ahnung, was ich durchmachte. Diese Frau hatte an der Universität studiert. Sie hatte eine mindestens 7-jährige Ausbildung hinter sich. Und trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sie einem 12-jährigen Mädchen, welches von einem Mann in einem Hauseingang sexueller Gewalt ausgesetzt worden war, helfen konnte. Sie konnte mir fast nicht in die Augen sehen. Ich erinnere mich, dass ich da in ihrem Sofa saß, während sie sich Notizen machte. Ich fühlte mich unwohl dabei, so analysiert zu werden, um in das Schema zu passen, in welches ihre Ausbildung sie gelehrt hatte, mich hineinzupressen. Ich war nur ein paar Mal dort, denn es war eine Verschwendung des Geldes meiner Mutter. – Wenn es ihr gelungen wäre, mir zu helfen, dann hätte mein Leben anders verlaufen können.
Stattdessen wurde ich mit 16 Jahren in die Psychiatrie eingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits 3 Selbstmordversuche hinter mir. Nicht einmal die ÄrztInnen oder PsychiaterInnen waren in der Lage, mir zu helfen – alles was sie taten, war zu prüfen, ob sie mich in ihr akademisches Schema einordnen konnten.
Nach zahlreichen sexuellen Übergriffen kontaktiere ich einen Fotografen, als ich 17 Jahre alt war. Ich wurde ein Nacktmodel, bis er mich im Wald sexuell belästigte. Als ich anfing zu weinen, sagte er mir, dass ich nutzlos und weichlich sei und dass er mich nicht mehr als Model gebrauchen könne.
Das ist es, was die „Groomer“ machen. Das ist jetzt nichts Neues. Aber: Was hätte diese Psychologin tun können, womit sie mich dazu bringt, mir selbst zu vertrauen? Was hätte sie tun können, um mir beizubringen, dass ich das Recht habe, nicht als Sexobjekt angesehen zu werden? Wie hätte sie mir beibringen können, meine eigenen Grenzen zu setzen?
Was wäre passiert, wenn diese Psychologin in ihrer Jacke auf mich gewartet hätte, um mir zu sagen, dass wir spazieren gehen? Was wäre passiert, wenn sie von ihren Schemata und Notizen aufgesehen hätte und mich gesehen hätte? Was wäre passiert, wenn sie sich einfach ganz normal mit mir unterhalten hätte, ohne jegliches akademisches Vokabular.
Als ich 20 Jahre alt war, begann ich mich in einem Bordell in Dänemark zu prostituieren. Ich hatte den Glauben daran verloren, dass irgendjemand mir jemals würde helfen können. Es war einfacher für mich, das zu werden, was Männer mich gelehrt hatten zu sein, ein Sexobjekt, welches für Geld gekauft werden kann, ein Mädchen ohne Grenzen, welches so tat, als liebe es Sex, obwohl Prostitution gar nichts mit Sex zu tun hat. Mir wurde beigebracht, dass die Wünsche von Männern wichtiger waren als meine eigenen.
Ich hatte keine Grenzen als ich in die Prostitution ging. Aber ich war am Boden, als ich 3 Jahre später wieder hinaus kam.
Was ich in der Prostitution gesehen habe, waren junge Mädchen, die sich mit Medizin, Alkohol und Drogen betäubten. Es waren junge Mädchen wie ich selbst, die Erfahrungen mit widerlichen Männern machen mussten, Männern, die prostituierte Frauen als ihr Eigentum behandelten, die Dinge mit ihnen taten, die nicht erlaubt waren, aber sie taten es, um sich selbst zu zeigen, wie viel Macht sie über diese jungen Frauen hatten.
Einige dieser Frauen waren Gewalt ausgesetzt, in der Männer sie stramm festgebunden hatten, um sie zu vergewaltigen. Aber keine dieser Frauen sah dies als eine Vergewaltigung an. Sie sprachen über diese Taten der Sexkäufer, als wäre dies völlig normal und in Ordnung. Sie sprachen über diese Taten so gut wie nie als Gewalt – Ich tat dies auch nicht.
Wenn sie an meinen Haaren zogen, wenn sie ihre Hände um mein Genick legten, wenn sie versuchten, das Kondom abzuziehen, wenn sie mentale und verbale Gewalt ausübten, wenn sie versuchten, mir Furcht einzuflößen, wenn sie auf mich vor dem Bordell warteten oder wenn sie mich Gewalt aussetzen. – In meinen drei Jahren in der Prostitution sprach ich niemals von den Käufern als gewalttätig. Denn ich hatte gelernt zu glauben, dass dies normal und okay sei.
Als ich aus der Prostitution ausstieg war ich selbstmordgefährdet. Ich wollte mich selbst umbringen. Um all diese Gewalt auszuhalten ohne die Verantwortung dorthin zu platzieren, wo sie hingehört, bedeutet, dass du dich vollständig von dir selbst dissoziieren musst. Du musst jede Emotion ausschalten, um morgens aufstehen zu können, ohne komplett zusammenzubrechen.
Wenn wir von einer Frau hören, die mit einem Partner zusammengelebt hat, der sie Gewalt ausgesetzt hat, dann verstehen wir, was sie durchgemacht hat: Die allgegenwärtige Angst, die Unvorhersehbarkeit, das Nicht-Wissen, was kommen wird. Wir verstehen, dass der Partner sie bricht und sie Glauben macht, dass niemand sie jemals lieben wird, dass sie der Grund ist, warum er sie prügelt.
Wir wissen, dass dies nicht ihre Schuld ist und wir haben Gesetze gegen diese Taten, ungeachtet der Tatsache, dass sie viele Jahre bei ihm geblieben ist und sogar dann, wenn sie wieder zu ihm zurück geht. Sogar dann, wenn sie sagt, sie liebt ihn. Wir wissen, dass diese Frau so viel Gewalt ausgesetzt war, psychischer, verbaler, physischer, dass wir als Gesellschaft die Verantwortung übernehmen und handeln müssen, um diese Frau zu schützen.
Aber wenn es um Prostitution geht, dann scheint niemand dies mit einer gewalttätigen Beziehung in Verbindung zu bringen. Aber genau das ist es, es ist eine schlechte und gewalttätige Beziehung. Eine Art von Verzweiflung, bei der du dich selbst anlügst, wo du dich von dir selbst dissoziierst, wo du all jene guten Dinge betonst, die Prostitution für dich macht. Es bringt dir Geld ein, es gibt dir Möglichkeiten, es gibt die die Möglichkeit, mal mehr mal weniger zu arbeiten, es gibt dir Freiheit, es gibt dir eine Art falsche Sicherheit, dass du dein eigenes Geld verdienen kannst. Aber wisst ihr was?
Das alles hat mit Prostitution nichts zu tun. Niemand möchte darüber reden, was Prostitution tatsächlich ist. Worüber Leute sprechen möchten, ist die Glorifizierung, es sind die Lügen und die Dinge um die Prostitution herum.
Aber was Prostitution ist, ist das hier:
Du wartest darauf, ausgewählt zu werden. Du wartest darauf zu hören, was er von dir will. Du wartest, um zu gucken, ob er die Regeln bricht und deine Grenzen übertritt, du wartest auf den Betrag, mit dem er dir zeigt, was du ihm wert bist, du tust so, als seist du gerne dort, dass du es magst, auserwählt zu werden, dass du es magst über deine Regeln und Grenzen zu diskutieren, dass du es magst zu sehen, wie viel du ihm wert bist. Und dann, wenn er für das gezahlt hat, was er will, dann legst du deine Unterwäsche ab, legst dich hin und gibst vor, ihn zu mögen, du gibst vor, dass du seine Handlungen magst und die Art, wie er dich berührt und die Art, wie er dich ansieht, die Art, wie er mit dir spricht, sogar dann, wenn er grob, gewalttätig, aggressiv, widerlich, stinkend, abstoßend, herablassend und beleidigend ist – Du musst so tun, dass du dies tolerierst, dass du es magst und dass er dich antörnt.
Aber wir sind noch nicht fertig. Denn es geht nicht nur darum, etwas vorzutäuschen. Es geht darum, etwas vorzutäuschen, während er physisch so nah an dir dran ist, wie es nur geht. Dann wenn sein Penis in dir drin ist, in deinem Mund, deiner Vagina, deinem Anus. Sogar wenn es weh tut, musst du so tun, als würdest du es mögen. Du tust das, wenn du am verletzlichsten bist, nackt, alleine, und wenn er dich bittet auf die Knie zu gehen und seinen Penis in deinen Mund zu nehmen. Während du ihm einen Blowjob gibst, nennt er dich eine schmutzige Hure. Wenn er dich bittet, dich vornüberzubeugen, damit er seinen Penis in deine Vagina stecken kann, dann hoffst du nur noch, dass er dich nicht schlagen wird, dich nicht an den Haaren ziehen wird, das Kondom nicht abziehen oder dich anspucken wird. Und das Ganze passiert 5, 10 oder 15 mal am Tag. Könnt ihr euch vorstellen, was mit Menschen passiert, die solchen Handlungen so viele Male am Tage, mehrmals in der Woche, ausgesetzt sind?
Sie zerbrechen. Sie werden überwältigt von Depression, Angst, Selbstmordgedanken, Alpträumen, Flashbacks, Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen. Viele der Frauen in Dänemark können nicht schlafen. Viele von ihnen waren jahrelang in Therapie, erholen sich nur sehr langsam, nach all der Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Diese Frauen werden von der Gesellschaft als schwach angesehen. Die Medien reden von Prostitution als Sexarbeit, ohne auch nur einen Gedanken an diese Frauen zu verschwenden. Diese Frauen werden gejagt, wenn sie öffentlich darüber sprechen. Sie können nach wie vor niemandem trauen – Denn wenn sie aufstehen und öffentlich darüber sprechen, dann werden sie attackiert, bedroht und zum Schweigen gebracht. Sie sind da draußen, alleine, mit ihrer Verletzlichkeit – und fürchten sich davor, was die Leute denken werden, wenn sie herausfinden, dass sie zu schwach waren, die Gewalt in der Prostitution zu ertragen.
Als ich endlich aus der Prostitution herauskam, begann ich eine Therapie, mit einem Therapeuten nach dem anderen, die alle nicht die richtigen Fertigkeiten hatten, weil sie alle keine Ahnung von Prostitution und ihrer Auswirkungen hatten. Sie waren eher neugierig darüber, wie es denn wohl so war, ohne zu verstehen, dass das, was ich durchlitten habe, eine Form psychischer Folter war.
Eines Tages, als ich 26 Jahre alt war, sagte mir eine Freundin, ich solle einen Bekannten von ihr anrufen. Er war ein älterer Herr, ein Psychiater im Ruhestand, der jedoch noch einige KlientInnen in seinem Haus empfing. Also rief ich ihn an. Ich ging über einen Zeitraum von zwei Jahren einmal in der Woche zu ihm. Wenn ich zu ihm nach Hause kam, hatte er den Kamin angemacht, machte Tee und stellte eine Schüssel mit Keksen auf den Tisch. Er fing damit an, mir von sich selbst zu erzählen, seinem Leben, seiner Frau, seinen Kindern und seinem Leben. Und dann sagte er:
„Als ich mich zur Ruhe setzte, hatte ich zwei Möglichkeiten. Ich konnte losziehen und mit den anderen Rentnern zum Golfen gehen oder ich konnte weitermachen mit dem, was ich liebe – mit Menschen zu sprechen, die Hilfe brauchen, um ihren inneren Frieden zu finden.“
Das allererste Mal fühlte ich mich am richtigen Ort. Er sah mich nicht als eine Klientin an, als ein Projekt oder als eine, die er mit akademischen Worten beschreiben und in seine Schemata einordnen konnte. Er sah mich als einen Menschen an und wir sprachen über alles Mögliche. Das erste Mal fühlte ich mich wohl, denn er war in der Lage, das wahre Ich sehen, er war in der Lage, mir Zeit zu lassen, er war in der Lage, langsam mit mir zu arbeiten, genau so, wie ich es benötigte. Wir sprachen über alles. Das Wetter, die Natur, meine Kindheit, meine Erfahrungen in der Prostitution, die Gewalt, der ich in meinen Beziehungen ausgesetzt war und wir sprachen über meine Tochter.
Wenn sie krank war, brachte ich sie mit zur Therapie und wir tranken alle gemeinsam Tee und aßen Kekse und sprachen über andere Dinge. Aber das Wichtigste war, dass er da war. Das erste Mal vertraute ich jemandem. Ich glaubte, ich könnte ein normales Leben führen. Ich erzählte ihm von meinen Erfahrungen mit verschiedenen PsychologInnen und TherapeutInnen und er sagte zu mir, dass ich Therapeutin werden müsse und eines Tages ein Buch schreiben werde.
Ein Jahr später beendete ich meinen Abschluss als Sexologin. Danach bildete ich mich weiter fort und vor 4 Jahren veröffentlichte ich ein Buch über Sex und Liebe.
Ich habe mir versprochen, dass ich genau wie er sein würde. Ich wollte meine KlientInnen als gleichwertig ansehen und dass meine Geschichte und mein Weg anderen Menschen helfen soll. Denn ich weiß nicht, wo ich heute ohne ihn wäre.
Meine Geschichte ist nicht einzigartig. Viele der Frauen in Dänemark, die ich kenne und die in der Prostitution waren, erzählen, dass ihre PsychologInnen und TherapeutInnen keine Ahnung haben von den Angelegenheiten, die diese Frauen betreffen. Aber die Erfahrungen aus Dänemark zeigen, dass Frauen, die das am eigenen Leib erlebt haben und als Psychologinnen oder Therapeutinnen ausgebildet werden, genau wissen was diese Frauen durchgemacht haben.
Deshalb möchte ich alle PsychologInnen und TherapeutInnen ermuntern, sich die Arbeit dieser Frauen anzuschauen, sich die notwendigen Fertigkeiten anzueignen, entweder sich das Wissen anzulesen oder mit den PsychologInnen und TherapeutInnen, die eigene Prostitutionserfahrungen haben zu sprechen, denn sie wissen genau, was nötig ist, um zu einem normalen und würdigen Leben zurückzufinden.
Weltweit sprechen wir über Gleichberechtigung. Wir sprechen über geschlechterspezifische Gewalt, über die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern. Wir sprechen über Vergewaltigungen in Indien, dem Mord an einer jungen Frau hier in Deutschland, die zwei jungen Mädchen helfen wollte, die von einer Gruppe von Männern belästigt wurden, wir sprechen über Menschenhandel, über Armut, über nigerianische Frauen, die durch Voodoo bedroht werden in der Sexindustrie zu arbeiten, wir sprechen über den Mord an einer 20-jährigen Frau hier in Dänemark, die von Männern ermordet wurde. Wir sprechen über sexuelle Gewalt gegen Kinder, meistens von Männern ausgeübt. Wir sprechen über Säureattacken gegen pakistanische Frauen, wir sprechen über junge jemenitische Mädchen, die in die Ehe gezwungen werden und dann … Dann sprechen wir über Sexarbeit. Wie kann dieses Wort aus jedermanns Mund kommen, wissend, dass Frauen weltweit benutzt und missbraucht werden – ausgebeutet und geschädigt auf so viele verschiedene Arten und Weisen? Das muss aufhören. Solange wir die Gewalt in der Prostitution ignorieren, wird niemand in der Lage sein, Gewalt gegen Frauen allgemein zu beenden.
Du kannst etwas, das fundamental im Mensch ist, nicht kommerzialisieren oder zu einer Handelsware machen. Du kannst die Sexualität nicht aus Menschen herausnehmen und in etwas verwandeln, was man kaufen und verkaufen kann. Sexualität ist in uns drin – in uns allen. Es ist etwas, was wir von innen heraus ausleben, aus Attraktion, Lust, Bedürfnis und Liebe – es wächst in uns, wenn wir Kinder sind, und es wird durch die Liebe unserer Eltern oder anderer Menschen in unserem Leben stimuliert.
Wenn wir sie ausleben aus Verzweiflung, aufgrund von Armut, aufgrund eines niedrigen Selbstwertgefühls, weil wir Gewalt erfahren haben oder sexuell belästigt worden sind oder weil wir dazu gezwungen wurden, dann dissoziieren wir uns von diesem Kern, dem Kern, der eigentlich zu Wohlgefallen, Freude und einem Glücksgefühl führen soll. Die meisten der Frauen, die in der Prostitution waren, sind nicht mehr in der Lage, ihren Weg zurück zu diesem Kern zu finden, und wenn doch, dann braucht dies eine lange Zeit, da man es ihnen genommen und kommerzialisiert, zur Handelsware gemacht und objektifiziert hat – es ging niemals um die Attraktion, die Lust, die Bedürfnisse oder die Liebe von Frauen, und das ist der Grund warum viele von ihnen heute nicht mehr in sexuellen Beziehungen sein können, weil ihre Sexualität immer und immer wieder vergewaltigt wurde.
Wenn irgendjemand hier in diesem Raum Prostitution Sexarbeit nennt, dann möchte ich, dass sie oder er es selbst ausprobiert, nicht nur einmal, sondern für ein paar Monate, und dann zurückkommt und mir sagt, ob dies etwas ist, was er/sie immer noch als Arbeit bezeichnen würde.
Vielen Dank.
Anmerkung: Dieser Text erschien auf abolition2014.blogspot.nl. Die englische Originalversion auf tanjarahm.dk.