Prostitution und Freiwilligkeit

Illustration: Rosa Makstadt

von Dr. Ingeborg Kraus

Prostitution wird oft als eine ganz normale Sache dargestellt, die schon immer existiert hat. Dabei wird kaum über die Frauen nachgedacht, die der Prostitution nachgehen. Wenn ja, kommt immer sehr schnell das Argument der „Freiwilligkeit“ ins Spiel. Wer möchte sich dann noch in die Rolle eines sanktionierenden bzw. verurteilenden Menschen begeben? Doch wie kommt eine Frau überhaupt in die so genannte „freiwillige“ Prostitution und was bedeutet das für sie (und für ihre Kinder)? Prostitution ist zur selbstverständlichen Erwerbsoption geworden: Die Frage ob es ein Beruf wie jeder Andere ist, wurde in den letzten Jahren sowohl von der Politik als auch von Gewerkschaftsseite ernsthaft  diskutiert.

In meiner langjährigen psychotherapeutischen Erfahrung habe ich auch Prostituierte begleitet und die Hintergründe kennengelernt, die diese Frauen in die Prostitution geführt haben. Es wurde dabei deutlich, dass die Prostitution in allen Fällen die Fortsetzung von Gewalterfahrungen in ihrer Biographie war. Entweder wurden diese Frauen selbst sexualisierter Gewalt ausgesetzt oder waren in einem Umfeld groß geworden, in dem Frauen systematisch degradiert wurden. Ich möchte dies an drei typischen Fallbeispielen darstellen:

Eine Patientin von mir, die sich auch als „freiwillige“ Prostituierte bezeichnete, wuchs mit einem Frauenbild auf, das durchgehend von Gewalt geprägt war. Ihre Mutter wurde immer wieder von ihrem Vater geschlagen und anschließend vergewaltigt. Sexualität war in ihrem Selbstverständnis mit Gewalt verknüpft. Diese Szenen wiederholten sich immer wieder. Die Mutter ließ ihre Verzweiflung anschließend dann auch an ihrer Tochter aus, indem sie sie als „Hure“ beschimpfte, als sie begann, sich für Jungs zu interessieren. Als sie sich später prostituierte, sagte  sie zu ihrer Mutter: „Siehst du, jetzt bin ich genau das geworden was du wolltest“.

Eine andere Prostituierte erzählte mir, sie habe sich nicht unwohl gefühlt, als sie mit 19 Jahren in ein Bordell eintrat. Ganz im Gegenteil sagte sie, sie würde „dafür“ jetzt wenigstens bezahlt! Auch ihre Biographie war von sexueller Gewalt in ihrer Kindheit geprägt.

Bei einer weiteren Klientin, war der Einstieg in die Prostitution in Kombination mit vielen anderen, im Vorfeld schon vorhandenen Störungen, aufgetreten: Magersucht und Ängste. Sie schaffte es nach einem Jahr, aus der Prostitution auszusteigen und erklärte 20 Jahre später, die Prostitution sei ein Teil ihres selbstzerstörenden Verhaltens gewesen.

Mit diesem Wissen Prostitution weiterhin als „normal“ zu bezeichnen, bedeutet eigentlich Gewalt an Frauen als eine ganz normale und legitime Sache anzuerkennen. Diese Frauen haben sich die Prostitution nicht als einen „Beruf wie jeden anderen“ ausgesucht. Es sind häufig Frauen, die Schmerzhaftes in ihrer Vorgeschichte erleben mussten.

Studien über Traumatherapie stellen fest, dass es ein Bedürfnis des oder der Traumatisierten gibt, das traumatisierende Geschehen, dem sie hilflos ausgeliefert waren, zu kontrollieren. Eine Form der Kontrolle ist die Wiederholung: die sogenannte Täter-Opfer-Reinszenierung. In der Prostitution wird das Trauma in einem Rahmen in Szene gesetzt in dem die Prostituierte das Gefühl der Kontrolle über das Geschehen bekommt.

Frauen, die körperliche und sexualisierte Gewalt erfahren haben und/oder in einem Umfeld groß wurden, in dem Frauen gesellschaftlich erniedrigt wurden, entwickeln oft Schuldgefühle. Im Gegensatz zu Männern schaffen Frauen es kaum, Schuldgefühle zu verdrängen und kehren sie in Selbsthass um. Die daraus entstehenden Aggressionen richten Frauen hauptsächlich gegen sich. Vor diesem Hintergrund erscheint die Prostitution als ein Akt des Selbsthasses und der Selbstschädigung. TiefenpsychologInnen sprechen von einer masochistischen Umkehrung: „Jetzt bin ich genau das, was ihr von mir wolltet“. TraumatherapeutInnen sprechen von Täterintrojekten. Davon gibt es 2 Arten: täterimitierende- und täterloyale-Anteile.

Die täterimitierende sind oft männliche Verinnerlichungen (80 bis 90 Prozent der körperlichen und sexualisierten Gewalt wird von Männern ausgeübt). Täterloyale Introjekte, oft als weibliches Introjekt bezeichnet, werden in die Persönlichkeit aufgenommen, wenn man mit dem (erwachsenen) Gegenüber lange genug konfrontiert war. Es sind die Gedanken, die der Täter über uns hat, Sätze die er über uns sagt oder Anweisungen, die er uns gibt. In der einen oder anderen Form hat das jeder. In einer Situation in der wir dem Täter hilflos ausgeliefert sind, „verschmelzen“ wir mit ihm. Wir übernehmen die Meinung, die er über uns hat und fangen an, so wie er über uns selbst zu denken. Es sind dysfunktionale Versuche, sich selbst zu schützen: „Wenn ich mich selber quäle und fertigmache, müssen ‚die Bösen’ das weniger stark tun.“ Oder ‚Wenn ich genau mache, was sie mir sagen, werden sie mich vielleicht in Ruhe lassen.“ Die so entstandenen Verinnerlichungen des Täterblicks führen ein „Eigenleben“, Veränderungen erleben sie als bedrohlich, alles soll so bleiben wie vom „Peiniger“ vorgegeben wurde. Ein typisches Beispiel ist die psychische Abhängigkeit von einem Zuhälter.

In meinem Beruf ist die Arbeit mit Täterintrojekten tägliches Brot. Die Entstehungsgeschichte der negativen Glaubenssätze, die meine KlientInnen über sich haben, ist ihnen selbst meist nicht bewusst. Neben einem nach außen unauffälligen und angepassten „Alltags-Ich“ können unbewusste täterloyale Anteile ihr Unwesen treiben.

Viele meiner KlientInnen leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl und gehen sehr streng mit sich um, Sätze wie: „Ich bin nicht gut genug“, „Ich schaff das nicht“ oder „Ich bin nicht liebenswert“ fallen häufig. Das kann sich bis zum Selbsthass steigern, Hass auf den eigenen Körper, die eigene Lebendigkeit – und die eigene Sexualität. Hinter der selbstbewussten Fassade mancher Prostituierter verbirgt sich mit Sicherheit sehr viel Negatives, das im Inneren weiterwirkt. Eine Patientin formulierte es so: „Was anderes bin ich doch nicht wert.“

Vor diesem Hintergrund muss das Konzept der „Freiwilligkeit“ in der Prostitution und die Darstellung als „normale Tätigkeit“ in Frage gestellt werden. Freier müssen darüber aufgeklärt und in die Verantwortung genommen werden. Eine Gesellschaft, in der Frauen weiterhin zu nicht-menschlichen Objekten degradiert werden, in der eine sexuelle Ausbeutung stattfindet, die die Unterwerfung der Frau in Form einer Erotisierung inszeniert, ist zutiefst frauenfeindlich. Sie setzt weiterhin auf männliche Dominanz und trägt Täterstrukturen in sich.

Zum Weiterlesen: Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau (S. Fischer), Michaela Huber: Wege der Traumabehandlung. Teil 2 (Junfermann) und Der Feind im Innern (Jungfermann), Ingrid Olbricht: Wege aus der Gewalt gegen Frauen (C.H. Beck)

Anmerkung: dieser Artikel erschien in der letzten Ausgabe von Emma 2013.