Karlsruhe braucht ein Museum über den Holocaust!
Karlsruhe, den 09.11.2025.
Ich habe eine jüdische Freundin aus Paris. Ihre Großeltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie ist im Sommer 2023 einen Teil des Weges gelaufen, der ihre Großeltern in den Tod führte. Über 500 Kilometer ist sie den Gleisen entlanggelaufen, auf denen ihre Großeltern in Viehwagons nach Auschwitz transportiert wurden. Sie wollte das sehen, was ihre Großeltern auf ihrem Weg in den Tot nicht sahen. Auf ihrem Weg besuchte sie jüdische Gräber, Mahnmale zum Holocaust und Denkmäler für die ermordeten Juden. Sie wollte auch sehen, wie man auf diesem Weg den Holocaust gedenkt.
Ihr Weg führte nicht weit von Karlsruhe vorbei und ich bot ihr an auch Karlsruhe zu besuchen, da die Deutsche Verfassung und das Verfassungsgericht in Karlsruhe, eine Konsequenz des Holocausts ist. Ich selbst bin vor 20 Jahren nach Karlsruhe gezogen und kannte deshalb die Geschichte des Holocausts in Karlsruhe nicht. Ich denke, so wie mir, geht es vielen Zugezogenen. Ich weiß viel über den Holocaust, aber wo, wer und wie die Deportation und Ermordung der Jüdinnen und Juden in Karlsruhe stattfand, war mir nicht bewusst.
Ich bereitete mich auf den Besuch meiner Freundin vor: Ich lieh mir Bücher und Artikel von der BLB aus und recherchierte im Internet. ([1])
Einen Tag bevor meine Freundin kam, ging ich nochmal zu Karstadt um zu sehen, wo das Schild stand, das auf die ursprünglichen jüdischen Besitzer Knopf hinwies. Es war mir nämlich nie aufgefallen, obwohl ich seit 20 Jahren regelmäßig im Karstadt einkaufen gehe. Ich fand es nicht. Als ich dann am nächsten Tag mit meiner Freundin dort war, suchten wir das Schild gemeinsam und fanden es an einem Ort und auf einer Höhe, wo es am wenigsten auffällt. Das sei typisch, meinte sie, um die Menschen vom Konsum nicht abzuhalten. Schräg gegenüber wird aber an einen Besuch Goethes in Karlsruhe mit einem relativ großen Schild hingewiesen. Beide Ereignisse sind jedoch völlig asymmetrisch in ihrer historischen Gewichtigkeit. Den Bürgern wird hier das eher unbedeutende Ereignis vor die Nase gehalten.
Bei unserem Rundgang des Judenpogroms in Karlsruhe, waren viele Schilder entweder gar nicht angebracht oder so angebracht, dass sie nicht auffielen. Ich möchte mit ihnen die Erfahrungen teilen, die wir bei diesem Rundgang gemacht haben und was uns auffiel:
- Keine Gedenktafel vor der ehemaligen jüdischen Lidellschule.
- Kein Schild vor dem ehemaligen Warenhaus Tietz (Heute Breuninger).
- Kein Schild vor dem ehemaligen jüdischen Gemeindezentrum (Herrenstr. 14).
- Kein Schild vor dem ehemaligen Gasthaus „Zum weißen Berg“ (Heute Pizza Hut).
- Auch das Schild des ehemaligen jüdischen Bankhauses (Heute Vapiano) ist so angebracht, dass der Blick dort nicht hinfällt. Ich bin daran schon mehr als hundert Mal vorbeigelaufen ohne es gesehen zu haben.
- Dasselbe gilt für das Schild am Bahnhof und dem Polizeirevier am Marktplatz.
- Ich habe keinen Hinweis im Ständehaus gefunden, der über die dunkle Deutsche Geschichte mit Gauleiter Wagner hinweist.
- Wir sahen uns viele Stolpersteine an, die auf die Ermordung von Juden und Jüdinnen hinweisen. Wir haben aber keinen einzigen Stolperstein gesehen, der auf die Vertreibung/Arisierung von Jüdischen Wohnungen hinweist. Manchen Juden gelang nämlich die Flucht vor 1940. Ihre Wohnungen haben sie (wenn sie Glück hatten!) weit unter Wert verkauft. Nach 1940 wurden sie von den Nazis einfach enteignet und öffentlich versteigert. Kein Stolperstein weist auf diesen Raub hin.
- Das einzige Denkmal in der Sophienstraße wird für das Ausmaß des Pogroms nicht gerecht. Immerhin wurden 99% der Juden aus Baden vertrieben. Es ist schon durch 2 Bio-Mülltonnen nicht mehr sichtbar. (Siehe beigefügtes Foto)
- Es gibt seit ca. 20 Jahren einen großen Grabstein auf dem die Namen aller ermordeten Juden aus Karlsruhe stehen. Er befindet sich im Stadtfriedhof am Stadtrand. Auch hier ist der Holocaust vom Stadtbild entfernt.
- Es gibt kein öffentlicher Hinweis darauf, dass die ganze Stadt an den Plünderungen jüdischen Eigentums teilnahm: Justiz, Polizei, Badisches Landesmuseum, Badische Landesbank, Badische Presse, ortsansässige Händler, Karlsruher Bürger, die sich das Vermögen ihrer jüdischen Nachbarn billig oder kostenlos angeeignet haben, etc. (Ich verweise auf den Artikel von Katharina Siefert[2]: „Richtlinien zur „beschleunigten Freimachung der Judenwohnungen“.)
- Kein Hinweis in der Ritterstr. 8, wo die gestohlenen Gegenstände der Karlsruher Juden gelagert und öffentlich versteigert wurden.
- An manchen Stellen wurden wir kritisch beäugt, als wir Fotos von den Schildern machten, so wie z.B. vor dem Schild der ehemaligen Synagoge in der Karl-Friedrich-Straße oder vor dem ehemaligen jüdischen Hotel Nassauer Hof, wo wir sogar von mehreren Männern angehalten und befragt wurden, was wir hier suchten. Diese Schilder werden nicht als Gedenk-Orte wahrgenommen. Dort stehen zu bleiben und Fotos machen, erzeugt misstrauen.
- Ein großer Banner hang am Balkon des ehemaligen jüdische Hotels mit der Aufschrift „100 Jahre Diakonie“. Es schien als ob es der Diakonie immer gehörte. Das erschien mir grotesk, wenn man bedenkt, dass die evangelische Kirche während des Nationalsozialismus den Nazis sehr Nahe stand[3] und in Rheinland-Pfalz sogar Hand in Hand[4] mit ihnen zusammenarbeitete.
Fazit: Wenn man sich nicht gezielt mit der Judenvertreibung in Karlsruhe beschäftigt, bleibt dieser den Karlsruher Bürgerinnen und Bürger unsichtbar. Der Eindruck entsteht, dass der Pogrom nicht im Stadtbild erscheinen soll. Man stolpert zwar über manche Stolpersteine, das war es aber auch. Ich denke, dass meine Erfahrungen als zugezogene Karlsruherin, die von vielen anderen Zugezogenen auch ist.
Durch den Terror der Hamas in Israel und den dadurch ausgelösten Krieg, erleben wir aktuell eine Explosion von Antisemitismus in ganz Deutschland. Pro-Palästina Demonstrationen verlaufen nicht immer friedlich. Oft hört man antisemitische Parolen, Fahnen und Abzeichen von islamistischen Terrorgruppen. Das Existenzrecht Israels wird dabei auch oft in Frage gestellt durch Parolen wie „From the River to the Sea“. Der Holocaust wird oft negiert oder sogar mit Bezug auf Hitler glorifiziert, man hört auch Parolen, die Deutschland auffordert sich von seiner Schuld zu befreien: „Free Palestine from Deutscher Schuld“. Juden und Jüdinnen fühlen sich nicht mehr sicher in Deutschland.
Es ist der Holocaust, der das Fundament unserer Republik ausmacht. Es ist der Holocaust, der uns zu einer historischen Verantwortung jüdischen Lebens heute verpflichtet.
Wie können die zugezogenen Karlsruher Bürgerinnen und Bürger diese Verantwortung annehmen, wenn der Holocaust, zumindest in Karlsruhe, unsichtbar bleibt und so schwierig zu erfassen ist?
Unsere Erinnerungskultur scheint zu Ritualen an wenigen Tagen im Jahr begrenzt zu bleiben (Reichspogromnacht, Befreiung von Auschwitz), wo wir Demut zeigen, reden halten und zuhören. Unsere Geschichte des Grauens scheint in der Vergangenheit eingeschlossen zu sein und das Neue Karlsruhe findet keinen angemessenen Platz dafür. Für das Neue zahlt Karlsruhe Milliarden. Die Erinnerungskultur sollte jedoch die Gegenwart so ausrichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Deswegen sollte die Vergangenheit nicht unsichtbar bleiben.
Ich schilderte diese Erfahrungen in einem Brief dem Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup. Jeder Stadtrat und jede Stadträtin bekam auch diesen Brief.
Herr Oberbürgermeistern Mentrup antwortete auf meinen Brief sehr freundlich. Er wies daraufhin, dass Karlsruhe eine breite und plurale Erinnerungskultur aufweist: Gedenktage, rituelle Mahnungen, Beiträge, Stadtrundgänge, Ausstellungen, Publikationen, Erinnerungsmale, Informationen im Internet mit weiterführenden Links über Stolpersteine, historischen Orten und ein Gedenkbuch mit über 640 Karlsruher Holocaustopfern, Benennung von Straßen, Erhalt des Deportiertenfriedhofes in Gurs.
Mein Brief sollte keine Kritik an die aktuelle Arbeit an der Erinnerungskultur sein. Es sollte mehr einen Gesamteindruck widerspiegeln, wie es ist, wenn Nachkommen von Holocaust-Opfern Karlsruhe besuchen und dabei nicht die Gelegenheit haben an kurzzeitigen Ausstellungen oder Gedenktagen teilzunehmen. Der Eindruck entsteht, dass es viele kleine Puzzle-Teile in der Stadt gibt, die man aufsuchen kann um sich ein Bild davon zu machen, was hier unter den Nazis passiert ist. Es ist ein Gedenken, das zerstückelt und unklar erscheint. Und für die Karlsruher Bürger selbst, wenn man nicht genau hinguckt, bleibt ein ähnlicher Eindruck.
So war es bei mir, obwohl ich mich als Wissensbegierig einstufe. Es waren immer wieder kleine Puzzle-Teile, die mir Stück für Stück die Geschichte der Vertreibung & Ermordung der Juden in Karlsruhe in Erfahrung brachten. Nicht weil ich es nicht wissen wollte, ich denke eher, dass dieses Wissen sehr zerklüftet ist.
Wer weiß, dass man in der Region Baden ein Yiddisch sprach, das eine besondere Färbung hatte? und dass diese besondere Art des Yiddisch-Sprechens mit der Vertreibung der Juden ausgestorben ist? (cf. Freddy Raphaël, Französischer Soziologe an der Uni. Straßburg) Wer weiß, dass man in der Pathologie in Straßburg, Jüdinnen und Juden in Formol einlegen wollte, um noch ein paar „Exemplare“ von ihnen zu haben, da ihre Ausrottung sehr schnell voran ging? Wer weiß, dass viele Jüdinnen und Juden innerhalb von Frankreich binnenvertrieben wurden und nach 1945 nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehrten. Das war z.B. das Schicksal meiner Freundin aus Paris. Ihre Großeltern stammten ursprünglich aus dem Elsass.
Die Nachfahren von Karlsruher Holocaust-Opfern, die gibt es. Ich bin ihnen per Zufall immer wieder begegnet: Einmal in New-York auf einer Veranstaltung, wo ich Gastrednerin eingeladen war. Eine Zuhörerin kam auf mich zu und sagte, dass ihr Vater ursprünglich aus Karlsruhe kommt. Sie war die Vorsitzende der Jüdischen Frauen in den USA. Ihr Vater ist vor 1940 nach Amerika geflohen. Sie sagte mir, dass ihre Familie vor Jahren einen Brief von Oberbürgermeister Heinz Fenrich bekam. Er wurde eingeladen nach Karlsruhe zurückzukommen. Eine Rückkehr kam für sie nicht in Frage. So begegnete ich auch Nachkommen in Frankreich, auch ein Sohn eines Zwangsarbeiters, der nach Karlsruhe (heute ZKM) verschleppt wurde. Manche kommen nach Karlsruhe ohne, dass wir es wissen. Sie suchen Orte auf, wollen sehen was daraus geworden/übriggeblieben ist und/oder wie man an die Vertreibung/Ermordung ihrer Eltern/Großeltern gedenkt.
Nach dem 7. Oktober hatten viele meiner PatientInnen das Bedürfnis über den neu ausgebrochenen Krieg im Nahen-Osten zu reden. Über diese Gespräche konnte ich erfahren, dass viele kaum Wissen über den Holocaust in Karlsruhe haben. Auch viele nicht, die in Karlsruhe sogar zur Schule gingen. Es scheint den einzelnen LehrerInnen überlassen zu sein, wie sehr sie dieses Thema mit ihren SchülerInnen vertiefen wollen oder nicht.
Um dem neuen Antisemitismus in Deutschland entgegen zu wirken hat kürzlich eine ExpertInnen-Gruppe pro-aktive Maßnahmen empfohlen[5], nicht nur um den historischen Kontext den Bürgern heranzubringen, sondern auch um die verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus und Israel bezogener Antisemitismus zu entkräften. Die Aneignung dieses Wissens sollte nicht dem einzelnen Bürger überlassen werden, so wie es aktuell der Fall ist. Diese intellektuelle Arbeit leisten nur wenige.
Was definitiv in Karlsruhe fehlt, ist ein Ort, wo man sich ein ganzes Bild von der Vertreibung und Ermordung der Juden und Jüdinnen der Regionen Baden, Mannheim, Elsass und Lothringen erschließen kann. Diese Regionen waren Opfer dieser einzigartigen Vernichtung/Nazifizierung/Arisierungspolitik und Kriegsverbrechen der Nazis unter Gauleiter Wagner.
Ein Museum, wo auch Schulklassen aus der ganzen Region und auch aus dem Elsass hingehen könnten um sich dieses Wissen anzueignen, wäre eine sinnvolle Maßnahme um gegen das Unwissen über den Genozid an den Jüdinnen und Juden in der Region und gegen dem neu ausgebrochenen Antisemitismus entgegen zu wirken.
Dr. Ingeborg Kraus
Hier auch meine Rede zum drucken: Meine Rede zu den Novemberpogromen
Fußnoten:
- Deichmann, Marion. Ihr Name solle unvergessen bleiben: eine Kindheit geprägt von Völkermord.
- Niedermann, Paul. Un enfant Juif, un homme libre: mémoires.
- Vonau, Jean-Laurent. Le Gauleiter Wagner: le bourreau de l´Alsace.
- Niedermann, Paul Hrsg. Briefe – Gurs – lettres. Briefe einer bedisch-jüdischen Familie aus französischen Internierungslagern – Lettres d´une famille juive du Pays de Bade internée dans les camps en France.
- Meyer-Moses, Hanna. Reise in die Vergangenheit: eine Überlebende des Lagers Gurs erinnert sich an die Verfolgung während der NS-Diktatur.
- Werner, Josef. Hackenkreuz und Judentum: das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich.
- Unger, Pierre. La déportation des juifs du pays de Bade. 2015-2016.
- Stadt Karlsruhe, Stadtarchiv & Historische Museen. Karlsruhe erinnert.
- Deportation der Südwestdeutschen Juden nach Gurs.
- Gedenkbuch für die Karlsruher Juden. https://stadtgeschichte.karlsruhe.de/erinnerungskultur/gedenkbuch-fuer-die-karlsruher-juden
- Arbeitskreis für Landeskunde / Landesgeschichte RP Karlsruhe. Stadtrundgang zum Thema „Geschichte der Juden in Karlsruhe“.
[2] Siefert, Katarina. Richtlinien zur „beschleunigten Freimachung der Judenwohnungen“. Die Verwertung jüdischen Vermögens in Baden und eine Holzschatulle im Badischen Landesmuseum Karlsruhe. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Nr. 167. 2019.
[3] Vortrag von Dr. Udo Wennemuth. Kreuz in Bedrängnis. Die Evangelische Landeskirche in Baden im Nationalsozialismus.Landesarchiv Baden-Württemberg. https://www.youtube.com/watch?v=eZAGnOvU24M
[4] SWR Kultur. Hand in Hand? Protestantismus und Nationalsozialismus in RLP. 2015.
https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/article-swr-11330.html




